Jochen Sicars
Von Dieulefit nach Aurel
Seit ca. 15 Jahren hier im Süden Frankreichs ansässig, verfolge ich auf der Webseite des Hugenotten-Waldenserpfades seit etwa zwei Jahren das Entstehen dieses interessanten Themen-Fernwegs und habe bereits zweimal im deutsch-französischen Internetportal EspritAzur dazu berichtet. Angeregt durch die Beschäftigung mit diesem Thema, habe ich im Frühsommer dieses Jahres die ersten fünf Etappen Sur les Pas des Huguenots von Le Poët-Laval bis Aurel (nahe Die) unter die Wanderschuhe genommen und war begeistert sowohl von der geschichtlichen wie von der landschaftlichen Vielfalt dieses Weges.
Die Planung dazu hatte ich nach zahlreichen nützlichen Kontakten mit Johannes Melsen, dem Verantwortlichen des französischen Teils dieses Weges in Le Poët-Célard und unter Mithilfe einer kleinen, in der Drôme ansässigen Reiseagentur vorgenommen. Deren Betreuung nichts zu wünschen übrig ließ, deren Unterlagen übersichtlich und korrekt waren (allerdings französisch) und die selbst für den Weitertransport meines Reisegepäcks von einem „chambre d’hôtes“ zum folgenden sorgte. Für den von weither Angereisten sicher eine große Hilfe.
Johannes Melsen gab mir ebenfalls die Internetadresse einer ganz besonderen Veranstaltung auf diesem erst 2009/2010 eingeweihten Weg, der Wanderung einer kleinen Gruppe vom Startpunkt Le Poët-Laval (östlich von Montélimar), 30 Tage lang im Oktober 2010 bis zum Ziel in Genf, wo ihr mehr als 200 Menschen einen begeisterten Empfang bereiteten. Das Besondere an diesem Ereignis war zum einen, dass alles Gepäck auf dem Rücken von Eseln transportiert wurde (sh. später Tzig’Âne) und zum anderen, dass eine der beiden Veranstalterinnen, die Töpferin und Ehefrau von Johannes Melsen, Barbara Huntziker, jeden Abend einen Tagesbericht per Handy nach Hause schickte, wo er umgehend auf dem nachstehenden Blog veröffentlich wurde.
Doch nun zum Bericht. Wir waren am Vortag in Saint Saturnin in der Vaucluse angereist und hatten es tatsächlich geschafft, den chaotischen Weg hinunter zu der in einer absoluten Einöde liegenden Bastide zu bewältigen, ohne uns Ölwanne oder Auspuff wegzureißen. Hier würden meine Frau und ihre vierzehn Kollegen sich weiter in die Feinheiten der Acrylmalerei einweisen lassen und ich dann weiter hinauf in Drôme provençale Richtung Dieulefit ziehen.
Karte des Wegverlaufs im Diois
Sonntag, 12.06.2011 (Pfingsten)
Nach etwas mühseliger Nacht in rustikaler Umgebung Aufstehen um 7h30. Frühstück mit den nach und nach aus ihren Gemächern auftauchenden Lernwilligen zum Frühstück, wie immer liebe- und fantasievoll zubereitet von Hausherr Nicolas (der sich aber auch nicht scheut, seiner Klientel Tees aus gerade dem Boden entrissenem Thymiangestrüpp anzupreisen). Traumhafte Brotsorten und Marmeladen, Selbstgebackenes von zu Hause – der Tag fängt gut an.
Um neun gehe ich auf Reisen; der Malkurs beginnt um 9h30. Wieder der Horrortrip über den mit aus der Piste ragenden Steinblöcken und Querrinnen übersäten, steil nach oben führenden Weg, dann darf TomTom die Regie übernehmen, um mich über Sault und Nyons zu meinem ersten Etappenziel Dieulefit zu bringen. Dieulefit – der Name ist schon ein erster Hinweis auf das einstmalige Rückzugsgebiet der Hugenotten im Diois und Vercors, le Désert ein anderer; hier hatten die allenthalben Verfolgten ihre Verstecke, ihre geheimen Kirchen, ihr Leben in der „Wüste“ wie weiland Jesus Christus. Zweieinhalb Stunden sind nötig, um die kurze Strecke von gut einhundert Kilometer durch die Baronnies zurückzulegen, reichlich versehen mit Kurven bei ständigem Auf und Ab.
In Dieulefit ist seit gestern ein dreitägiger Töpfermarkt, der offensichtlich tausende von Besuchern angezogen hat. Stopp and go, Umleitungen – nichts bleibt dem Ankommenden erspart. Wie ich erfahre, ist D. ein Zentrum der Töpferei und offenbar weithin bekannt für seine Produkte, farbenfroher als hier im Var, wo ich lebe.
Da ich zu früh bin, fahre ich gleich durch nach Le Poët-Laval, um mir dort in Ruhe das Hugenottenmuseum am Ausgangspunkt des Fernwanderwegs anzusehen. Das Museum hat seinen Platz in der ehemaligen Hugenotten-kirche gefunden, wo bewegende Zeugen der Vergangenheit gezeigt werden (von der alten hugenottische Bibel bis zum bei den heimlichen Treffen benutzten Schemel) und vermittelt umfangreiche Informationen über die Periode der Verfolgungen, wie sie dieser Landstrich nach der Aufhebung des Edikts von Nantes erlebt hat. Le Poët-Laval, eines dieser hoch an die Felsen geklebten Bergdörfer mit weitem Blick über das Tal, mit verwinkelten Gassen, die sich kreuzen, den Eindringling in die Irre führen, aber immer wieder dazu reizen, den Fotoapparat zu zücken. Gelobt sei der Erfinder der Digitalkamera, die es erlaubt, jegliches Zuviel wieder zu löschen.
Ein Top-Salatteller mit gebackenen Fischröllchen, verschiedenen Beilagen wie Auberginen- oder Paprika-„Kaviar“ und interessant gewürzten Salaten an einem lauschigen Plätzchen verkürzt mir das Warten auf die Eröffnung des Museums – „ganzjährig täglich geöffnet ab 15 Uhr“ – und ich nutze die Zeit zum Schreiben meiner täglichen Memoiren. Aber auch um 15h30 ist noch niemand dort zu sehen – Pfingsten eben. Also zurück nach Dieulefit zu meiner heutigen Bleibe, aufgrund des aktuellen Verkehrschaos nur schwer zu finden. Wer bringt den Leuten nur mal bei, statt wild mit den Armen zu rudern, eine Weg in Klartext zu beschreiben? Nach einer halben Stunde und einigen Umwegen sehe ich das klitzekleine Tontäfelchen von LE THÉRON, das Anwesen in mehreren Ebenen aufgepfropft auf einen letzten Rest der mittelalterlichen Stadtmauer. Eine wahre Idylle, aber sicher nichts für Fußlahme mit all den unterschiedlich hohen Treppenstufen bis hoch zum meinem Zimmer bzw. zum Pool. Dafür alles von Blumen überwuchert, wohin das Auge sieht. Liebevoller Empfang, charmantes Zimmer mit viel östlichem Dekor aus der Zeit des Hausherrn als Diplomat in Fernost. Noch heute fahren beide Jahr für Jahr nach Laos, um dort ein Schmetterlingsrefugium! zu schaffen. Essen im vorbestellten Restaurant, Bettruhe – morgen geht’s los.
Montag, 13.06.2011 (immer noch Pfingsten)
7 Uhr auf, packen, organisieren was in den Rucksack soll - der Rest wird im Laufe des Tages weiter transportiert zum nächsten Etappenziel. Frühstück, fürstlich und BIO. Die Drôme ist Frankreichs Bio-Departement Nr. 1, erfahre ich nebenbei von Madame, die dem Besucher vom ersten Moment an das Gefühl gibt, zu Hause zu sein. Vor lauter „Ratschen“ verpasse ich schon mal, mein vorsorglich über SAFRANtours bestelltes Picknick mitzunehmen, aber wenigstens reichlich Wasser, das zunächst zwar einiges wiegt, aber im Laufe des Tages ja den „Behälter“ wechselt – bevor es viel zu schnell verdampft. Um 9h20 starte ich endlich zu meiner Wanderung – auf 400 Höhenmeter; die zweite Etappe dieses Fernwanderwegs beginnt direkt am Fuße der Stadtmauer und entspricht – wie viele Etappen danach – dem GR9. Die erste Etappe, die in Le Poët-Laval beginnt, hatte ich aus Zeitmangel fallen lassen.
Ein steiler, steiniger Weg lässt keinen Zweifel daran, dass dies kein Spaziergang im Kurpark wird und ich mache mir schon mal Gedanken darüber, ob mein gerade wieder notdürftig verheilter Rücken die kommenden Tage überstehen wird. Auch meine von hiesigen Märschen gewohnte Schrittlänge von 90 cm werde ich nur in den seltensten Fällen erreichen. Die „Wandermännchen“ (méreau) des Hugenottenweges und die rot-weißen Markierungen des GR9 weisen mir ständig den Weg, von Fall zu Fall abgelöst durch orange Punkte oder blaue Striche, all das minutiös erklärt in der Wanderhilfe. Die Landschaft hier hat sich verändert, seit ich gestern ungefähr zehn Kilometer vor Dieulefit die „Drôme provençal“ verlassen hatte. Olivenpflanzungen und Lavendelfelder sind nun Laubwald und Wiesen gewichen. Gegen Mittag wird es ebener, Wiesen Hügel, Farmen rechts und links; der Weg wird zeitweilig asphaltierte Straße.
Kurze Rast unter schattigem Laubdach, wo ein Pfingst-Ausflüglerpaar ebenfalls gerade Mitgebrachtes verzehrt.
Weiter auf schmaler werdenden Pisten, gelegentlich ist ein Viehgatter zu öffnen und sorgfältig wieder zu schließen. All diese Hinweise finden sich, neben Angaben über Marschzeiten, Entfernungen oder Höhe in dem kleinen Brevier, das man besser nicht aus der Hand lässt, wenn man nicht Kilometer lange Umwege riskieren möchte.
Auf einem Hügel in 650 m Höhe die Kirche von Corps, eine letzte Anstrengung, dann liegt das schlichte, romanische Bauwerk, zu Teilen aus dem 11. Jh. vor mir. Wie mir der gerade anwesende Michel Timet vom historischen Verein Comps erklärt, ist dies nun nicht etwa ein hugenottischer „Temple“ (Bezeichnung reformierter Kirchen in F.), wie man ihn eigentlich auf dieser Strecke erwartet, sondern eine katholische Kirche (Église), die aber schon seit dem 18. Jh. von beiden Konfessionen genutzt wird. Die hugenottische liegt einige hundert Meter weiter im Tal, ist jedoch heute in Privatbesitz, nachdem in der Revolution viele kirchliche Besitztümer säkularisiert wurden. Nichts zu essen weit und breit, also weiter. Wieder geht es steil bergan durch Laubwald bis auf 785 m , dann beginnt der lange Abstieg nach Bourdeaux, meinem heutigen Etappenziel, das wieder auf 400 m Höhe liegt.
Vorbei an weit auseinander liegenden großen Höfen, die allenthalben ihr Heu einfahren, vorbei am Château Saint André (Privatbesitz), dann an einer Farm als „Gîte“ (Ferienwohnung), LA BOUDONNE , sehr malerisch hoch über dem Ort gelegen, mit Pool (300€ Neben-, 400€ Hauptsaison/Woche) mit eigener Schafherde. Einige Kurven im Zick-Zack tiefer mein erster Hugenotten-Friedhof, ein kleines Karree aus Feldsteinen geschichtet, nicht mehr als 20 m Seitenlänge.
Hier, wie auch überall an anderen Stellen im Zusammenhang mit dem Exil der Hugenotten, wurden ausführlich erklärende Hinweistafeln aufgestellt (wie die Schatten zeigen, nicht immer günstig für ein Foto)
Nach dem Beginn der Verfolgungen 1682 durften in vielen Gemeinden die „infidèles“, die vom „wahren“ Glauben abgefallenen, nicht mehr auf katholischen Friedhöfen beerdigt werden und schufen so auf den eigenen Grundstücken ihre letzte Bleibe.
Und weiter im Zick-Zack steil bergab nach Bourdeaux, erstes Pieksen in den Knien. Noch eine Flussdurchquerung, dank Nordic-Walking-Stöcken ohne nasse Füße, dann ist mein Ziel erreicht. Sechzehn Kilometer, für einen ersten Tag nicht schlecht. Vier Uhr nachmittags, flimmernde Hitze, mittägliche Ruhe. Dann endlich ein Bistro, das mir nach anfänglichem Angebot eines „Croque-Monsieur“ – abgelehnt – dann doch eine ausnehmend leckere Lasagne serviert (plat du jour vom Mittag), mit passiertem Geflügelfleisch und Gemüse gefüllt, dazu ein Hauch von Curry.
Gleich gegenüber meine Bleibe für die beiden kommenden Nächte – LA TULIPE SAUVAGE. Weniger schön als meine letzte Unterkunft, aber netter Empfang, sauberes Zimmer, auch hier Pool und Garten. Gerade wird mein Gepäck gebracht. Nachher gemeinsames Essen und endlose Diskussion mit den Gastgebern Françoise und Bruno und einem Paar aus Belgien, Pierre und Yasmina (Tunesierin), die in Indien in Sachen Pharmazeutik tätig sind. Um 11h30 bin ich endlich im Bett, nach ausgiebiger körperlicher Renovierung und vorbeugender Einreibung gegen Muskelkater.
Dienstag, 14.06.2011
Geschlafen wie ein Stein - und der Muskelkater ist trotzdem da. Also weitere Behandlung und dann auf zu neuen Taten. Das Frühstück kann mit LE THÉRON nicht mithalten, reicht aber völlig aus. Heute ist mein so genannter „Erholtag“, d.h. nur sieben Kilometer Rundmarsch, um einige Stätten der Hugenotten-geschichte kennen zu lernen. Was mich aber nicht hindert heute jedenfalls mal mein Picknick mitzunehmen. Gleich geht’s wieder bergan.
Zur Rechten wieder mehrere Hugenottengräber, schon von weitem zu erkennen an ihren Trockenmauern und an einer hohen Zypresse. Wenn man näher tritt, sieht man, dass sie noch heute genutzt werden. Schmucklos – nur ein kurzer Pfahl mit einem Emailschildchen kündet vom Dahingeschiedenen.
Die schmale Asphaltstraße vom Beginn verliert sich im Walde, entlang von bereits gelben Kornfeldern. Willkommener Schatten von Buchenwald, Esskastanien und Eichen und weiterhin bergauf, heute jedoch nur bis auf 570 m Höhe. Ein Hof mit Namen „Le Bourreau“ (der Henker): Man hatte den armen Protestanten anno 1683 gezwungen, drei seiner Glaubensgenossen zu hängen, die man bei der Schlacht von Bourelles (120 Tote) gefangen genommen hatte.
Von nun an wieder bergab; am Ortseingang das Schild von Tzig’Ânes, der Farm von Pascaline, die mit Barbara Huntziker und Claude Brand die Oktoberwanderung mit Packeseln nach Genf unternommen hatte. Leider müsste ich nun wieder zweieinhalb Kilometer zurück laufen, um sie dann vielleicht nicht einmal anzutreffen. Muss heute nicht sein. Statt dessen quer durch’s Dorf über den Fluss Roubion, der der Sage nach so heißt, weil sich einst die Herren von Bourdeaux und Soyans um die Hand einer jungen Frau geschlagen schlugen, der Fluss sich rot färbte von ihrem Blut und so zu seinem Namen „rouge-bion“ gekommen sein soll *.
Von hier hinauf zur Altstadt „Vialle“ am Berghang, wo ich unter einem riesigen Nussbaum mein heute ja nicht vergessenes Picknick einnehme, mit herrlichem Blick über den Ort und seine Umgebung.
Frisch gestärkt geht es weiter hoch zu den Ruinen der ehemaligen Burg, die in so bejammernswertem Zustand ist, dass die Gemeinde es für nötig hielt, allenthalben Schilder anzubringen, mit denen sie jegliche Verantwortung für herabfallende Mauerreste ablehnt. Zurück ins Dorf, Mittagsschläfchen am Pool im Garten, Schreiben eines Dutzends Postkarten im Bistro, Versuch, Johannes Melsen telefonisch zu erreichen, nochmals eineinhalb Stunden am Pool mit Hund Whisky …
Abendessen im Garten, wieder im Familienkreise, mit einer Caillette aus eigener Produktion, Wok mit Huhn, Pilzen und Gemüse, Erdbeeren und Kirschen bis zum Abwinken. Schlaraffenland. Nur heute mal ohne Gespräche bis in die Nacht, morgen steht mir ein harter Brocken bevor: Der Marsch zu den Trois Becs – in 1050 m Höhe, kumulierter Höhenunterschied von 815 m .
* Für
Interessierte an weiteren Zeugnissen der Reformationszeit in dieser
Gegend sind drei Wegschleifen in der Nähe von Bourdeaux und Le
Poët-Célard ausgewiesen, zu denen das Office de Tourisme in Bourdeaux Auskunft geben kann.
Markierung Hugenottenkreuz |
Mittwoch, 15.06.2011
Ein kurzer Gedanke an Taradeau vor genau einem Jahr – die Hochwasserkatastrophe, die zwei Brücken und vier Häuser wegriss und fünfzig überschwemmte. Eintrag ins Goldene Buch des Hauses, dann los um 9h15. Am Ausgang von Bourdeaux hält abrupt ein Wagen, die Tür wird aufgerissen: „Sind Sie zufällig Jochen Sicars?“ !!! Es ist Johannes Melsen, der meine Nachricht auf seinem Handy gefunden hatte. Sehe ich wirklich so „deutsch“ aus? Sympathischer Riese von nahe zwei Meter; wir verabreden, dass wir uns morgen Abend nach Ende meiner Wanderung treffen, wenn ich noch nicht ganz tot sein sollte. Entweder in Dieulefit oder bei ihm und seiner Frau in Le Poët-Célard zum Essen. Von nun an geht es ständig bergan, von 400 m in Bourdeaux bis zu meinem nächsten Etappenziel am Col de la Chaudière in 1050 m Höhe. Mit kleinen Abwärtsbewegungen, aber nur, um kurze Zeit später erneut wieder bergan zu steigen. Bei den Gran Villards vertue ich einige Zeit mit den Erklärungen eines Ortsansässigen, der mich entgegen meinem Plan in die falsche Richtung schicken will; ich setze mich durch. Vor dem Weiler RASTEL empfängt mich das vorsorglich von Safran-Tours angekündigte, infernalische Gebell einer Rotte von Jagdhunden, die ängstlichere Zeitgenossen schon beunruhigen könnten. Tatsächlich sind sie angebunden.
Erneuter Anstieg zur Farm LA FONDORESSE , Zögern, weil der weitere Verlauf erst nach Auffinden des Wegweisers weit hinten im Feld gesichert ist. Auf schmalen Pisten geht es weiter, die Landschaft besteht nun zum Teil aus Geröllhängen, links auf-, rechts abwärts, dazwischen ein fußbreiter Pfad. Ginsterbüsche streifen meine bloßen Beine. Mittagessen unter Wildrosenbüschen; ein entgegenkommendes Pärchen schreckt auf, als es fast über meine Füße stolpert …
Hier einer der typischen Wegweiser des Hugenotten-pfades mit dem Zeichen des Weges.
Wieder mal durch Viehgatter, dann ein Weg abwärts durch ein Flusstal, vorbei an grasenden Kühen, (schütteln die die Köpfe nun wegen der Fliegen oder angesichts des Wahnsinnigen, der um diese Tageszeit den Col du Gourdon angeht), der – inzwischen steht die Sonne hoch am Himmel und der Rucksack klebt auf meinem nackten Rücken – dem Wanderer einiges abverlangt. Erstmalig auf meiner Tour muss ich während der mindestens zwei Dutzend Zick-Zacks eine Trinkpause einlegen. Noch ein Gatter, Ankunft am höchsten Punkt des heutigen Tages. Von hier aus sehe ich schon deutlich zwei Zacken der 3 Becs.
Eine Teerstraße; mein Wegführer empfiehlt, anstelle dieser den seitlich abzweigenden Weg zu nehmen, der durch eine hiesige Besonderheit führt: „Marnes“, schieferfarbene Sanddünen, die immer wieder zwischen Gesteinsschichten hervorbrechen. Ein Material, das früher im Bau verwendet wurde, jedoch wenig Haltbarkeit zeigte. Eine öde Mondlandschaft umfängt mich, das Laufen durch die buckligen Sandberge ist nicht ganz einfach. Am Ende wieder die Teerstraße, bis das nächste Schild einen rechts abbiegenden Karrenweg empfiehlt. Unten liegt La Chaudière , ein kleines Dörfchen am Ende der Welt.
Im erst vor kurzem eröffneten kleinen Restaurant gönne ich mir als Erstes eine eiskalte Oberkörperwäsche; ich bin trotz Marsches „oben ohne“ schweißgetränkt. In offensichtlicher Erwartung von Wanderern in meinem Zustand hat der Pächter einen Stapel gerollter Handtücher bereit gelegt. Zwei „Panaché“ finden mühelos den Weg durch meine Kehle, dann sieht die Welt schon ein wenig anders aus. Also wieder auf den Weg – die letzten zwei Kilometer bis zu meiner heutigen Unterkunft „L’Arche des 3 Becs“. Rechts und links der Straße blühende Wiesen, eine wahre Alpenlandschaft.
Die IGN-Karte von SAFRAN-Tours – rot = bergan, blau = bergab
Wie mag es weiter oben im Vercors aussehen, wo der Weg sich durch eine schroffe Felslandschaft windet? Für mich kein Thema, dort sind die Abhänge zum Teil so schroff, dass Nicht-schwindelfreie wie ich sich besser fern halten. Doch weiter, gleich bin ich am Ziel. DENKSTE! – plötzlich ist mein Plan weg. Suche in allen Taschen: nichts. Also wieder zwei Kilometer zurück, die Augen auf dem Weg. Nichts. Auch nicht im Dorf, auch nicht im Restaurant. Nach nochmaligem, ungläubigem Suchen findet er sich in meiner Batzentasche ... Wieder 2 km zurück – für heute bin ich also auf 20 km .
Les 3 Becs – Die 3 „Schnäbel“
Rechts ein schmaler Pfad „chemin des ânes“ (Eselspfad) – unten liegt malerisch mein Ziel, eine Ansammlung alter Farmgebäude, liebevoll restauriert. Links über mir droht die Masse der „3 Becs“, gewaltige Felszinnen, die die ganze Landschaft beherrschen. Die letzten Meter, dann unten freundlicher Empfang, junge Leute, die das Ganze vor zwei Jahren erst übernommen haben. UND EINE GEBURTSTAGSFEIER MIT VIELEN KINDERN und aufgeregtem Gekreisch im überdachten Pool. Also erst einmal ersatzweise eine Dusche im hübsch eingerichteten Zimmer und ab auf’s Bett, nur einmal geweckt durch den abendlichen Anruf von Françoise und dann fast das Abendessen verpasst. Und der Pool ist natürlich inzwischen geschlossen. Lange Tafel mit anderen Gästen, angeregte Gespräche (eine spricht deutsch, hat gerade eine Halligen! - Ausstellung veranstaltet), ungezügelte Heiterkeit, als ich in der Erzählung über mein Essen in Bourdeaux von einem „croque-mort“* spreche statt von einem „croque-monsieur“ **. Einfallsreiches Essen – natürlich BIO, Test diverser alkoholischer Hausgetränke. Einfach schön. 22h30 Bettruhe – morgen wird’s hart.
* croque-mort - Sargträger, soll früher den Toten gebissen haben, um seines Todes sicher zu sei
* croque-monsieur - Käse-Schinkentoast
* croque-monsieur - Käse-Schinkentoast
Mein Zimmer in der „Arche des 3 Becs“
Donnerstag, 16.06.2011
Trotz mieser Wettervorhersage strahlende Sonne. Frühstück vom Feinsten, Brot und Konfitüre natürlich wieder aus eigener Anfertigung. Nach und nach tauchen auch die anderen Paare auf, alles Wochenendausflügler, die ein wenig zugegeben haben. Wer also erwartet, ständig protestantische Pilger oder überhaupt Wanderer zu treffen, mag sich gewaltig täuschen und ist gut beraten, für den Fall der Fälle ein funktionierendes Handy dabei zu haben, das er abends auch brav aufgeladen hat. Doch der Weg ruft. Zurück Richtung La Chaudière , dann durch den Domänenwald der Roanne – immer leicht bergab, auch hier wieder auf schmalen Saumpfaden, die sich den Bergfalten entlang schlängeln. Noch lange ist mein letztes Quartier zu sehen. Wie überall bisher Vogelgezwitscher rundum; die Gegend liegt wohl zu abgelegen für die sicher auch hier vorhandenen Jäger von Grive und Ortolan. Es geht wieder mal bergan. Am Col du Perrier habe ich den höchsten Punkt meiner morgendlichen Wanderung erreicht – 850 Meter .
Ein geröllübersäter Weg – eher ein Flussbett – führt wieder bergab, aber nur, um eine halbe Stunde später erneut diese Höhe zu erreichen.
Nach einer fast endlosen Zick-Zack-Piste erreiche ich mittags Saint Benoît-en-Diois. Totenstille – ein zerschlissener Sessel mit Sonnenschirm inmitten einer kleinen Häuseransammlung unterhalb der Kirche.
Wenn man sich von Norden her nähert, ist der Blick auf dieses Dorf auf seinem felsigen Bergsporn schon ein besonderes Erlebnis. Schon von Beginn an war es ein idealer Standort zur Beobachtung und Verteidigung des Eingangs zur Schlucht des mittleren Tals. Lange Zeit haben sich seine Bewohner über die Unfruchtbarkeit seines Bodens beklagt, der ihnen zum Essen „nichts anderes als Kartoffeln“ bescherte. Diese Eigenheit des Bodens wird inzwischen zum Anbau des Weins Clairette de Die genutzt. Die Kirche hat einen Eintrag im Zusatzinventar historische Monumente.
Ich klettere hoch zur Kirche, gefolgt von einem großen Hund, der wohl auf Abwechslung aus ist und es sich mit mir auf den Stufen vor dem Eingang gemütlich macht. Picknick und Wasser, auch für den Hund, dann endgültig die Entscheidung, die seit dem Morgen lauert: Nicht in der Mittagshitze über den steilen „Pas de la Pousterie “, sondern die 11 km über die Landstraße „außenrum“. Ich würde riskieren, mein Taxi zurück nach Dieulefit nicht zu erwischen, was dann also meinen Abend mit Johannes Melsen ebenfalls in Frage stellen könnte.
Also die Landstraße, entlang der tiefen Schlucht der Roanne, die sich einige Kilometer weiter in die Drôme ergießt. Kiefernwald hier und Kurve um Kurve hinab in die Ebene, wo dann die Straße nach Aurel abgeht. Der alte Wanderreim kommt mir in den Sinn und begleitet mich einen Teil der Strecke:
„Klotz, Klotz, Klotz am Bein, Klavier vorm Bauch, wie lang ist die Chaussee,
rechts ne Pappel links ne Pappel, in der Mitt’ ’n Pferdeappel,
Klotz, Klotz …
Oder, wie es in Frankreich heißt:
Vingt kilomètr’à pied, ça use, ça use,
Vingt kilomètr’à pied, ça use les souliers.
Vingt kilomètr’à pied …
Kleine Mittagspause auf einem Stapel Telegrafenmasten, den zweifellos eine besorgte Straßenmeisterei für mich bereitgelegt hat, dann erholt weiter. Kurz vor Aurel beginnen das dortige Anbaugebiet des Weins, aus dem der in ganz Frankreich bekannte Schaumwein „Clairette de Die“ hergestellt wird. Ich nehme mir vor, morgen ein paar Flaschen zur Verkostung mitzunehmen. Als ich in Aurel ankomme, fallen die ersten Tropfen.
Trotzdem, ein wenig mühsam nehme ich den steilen Weg hinauf ins Dorf, hoch auf einem Felssporn gelegen. Für nichts und wieder nichts; außer ein paar schönen Durchblicken ist Aurel tot, kein Bistro, keine Bar, kein Restaurant, nichts. Ein einsamer Handwerker vor dem Rathaus weist mir den Weg zum weitere 500 m entfernten Campingplatz (nach bereits 22 km gelaufenen), wo ich endlich meinen Tee und ein zusätzliches Panachée bekomme. Nun ist das Gewitter da und es gießt in Strömen. Ich rufe mein Taxi an und dirigiere es an den neuen Treffpunkt. Die Fahrt zurück führt wieder über die „3 Becs“, um meine Bagage abzuholen, dann schwindelnde, schmale Straßen, die auf abrupte Kehren ohne Sicht zulaufen – nicht gerade der Geschmack von Jochen Sicars. Der Taxifahrer, cool, entspannt, steuert erfahren mit einer Hand, zeigt mir rechts und links Sehenswertes, während ich seine Augen wirklich lieber auf der Straße sähe … Aber fahren kann er und die Unterhaltung lenkt schließlich ab. Gegen 18 Uhr sind wir wieder in meinem ersten Quartier in Dieulefit, Anruf bei Johannes Melsen, OK für heute Abend.
Nach ausgiebiger Dusche bin ich wieder auf dem Weg nach Le Poët-Célard. Ein Hof am Ende eines langen, schmalen Weges, ein holperiger, halb überschwemmter Platz vor dem Haus – Erinnerungen an den Aussiedlerhof von Astrid und Andreas und ihr alternatives Leben werden wach – niemand zu sehen. Die Familie ist im Haus versammelt, Barbara Huntziker empfängt mich wie einen alten Bekannten, Freund Eric aus der Schweiz, auch einer derjenigen, die Ende Oktober die Wandergruppe mit Eseln in Genf empfangen hatte, ist gerade mit seinem Camping-VW-Bus eingetroffen. Dann erscheint der Riese Johannes und der Raum ist plötzlich voll. Schon sind wie in angeregter Unterhaltung, während Barbara kurz entschlossen ein Lammgulasch mit Bandnudeln aus dem Hut zaubert, zu dem der mitgebrachte Rote gern angenommen wird. Salat, Käse – darunter der hier hoch gerühmte „Picardon“ runden das Mahl ab. Schnell sind wir beim vertrauten Du. Hier erfahre ich nun auch, dass Johannes nicht etwa, wie von mir angenommen, ein protestantischer Pastor ist, sondern vielmehr von Jesuiten aufgezogen wurde, also katholisch ist und mit dem Schreiben und der Aufführung von Theaterstücken befasst und dazu fast ständig unterwegs ist. Auf meine Frage, was ihn dann auf die Wege der Hugenotten geführt habe, ist die schlichte Antwort die gleiche wie schon meine Anderen gegenüber: Weil er Geschichte liebt und weil ihn Minoritäten interessieren und Menschen, die für ihre Ideen einstehen. Er schenkt mir ein von ihm geschriebenes Büchlein über die verzweifelte Flucht eines Hugenotten Ende des 17. Jh. nach Genf und eine von Barbara gestaltete Kachel mit dem Zeichen des Weges Sur les Pas des Huguenots.
Barbara, technisch und künstlerisch sehr talentierte Töpferin, zeigt mir Atelier und Ausstellung, dann ist es schon wieder fast Mitternacht und ich brauche im plötzlich aufgekommenen Nebel mehr als eine halbe Stunde für die müden 16 km bis Dieulefit, auf kurviger Straße, deren Verlauf ständig verschwindet und wo ich mangels sichtbarer Straßenschilder ohne GPS vermutlich noch eine halbe Stunde mehr gebraucht hätte. Nachtruhe endlich um 0h30.
So weit zum Hugenotten-Waldenserpfad in Frankreich. Er war zunächst eine Herausforderung für einen, der sich mit 75 mal wieder beweisen musste, zu was er noch im Stande ist, auch nach sechs Wochen zuvor gerissenen Rückenmuskeln durch Anheben eines beladenen Anhängers; die Aktion war ja schon Monate vorher bezahlt worden. Und es war im Nachhinein ein fantastisches Erlebnis, allein durch diese grandiose Landschaft zu ziehen, andere Menschen mit gleichen oder ähnlichen Interessen kennen zu lernen und festzustellen, dass man tatsächlich bei einigermaßen regelmäßigem Training solche Tagesstrecken hinter sich bringen kann. Ab dem dritten Tag gab es keine Muskelschmerzen mehr und die Blase vorn an einer der Zehen, die ich erst am Tag danach bemerkte, war nur das Resultat einer zu kurz bemessenen Schuhgröße.
Eine Seite aus dem Wegführer von SAFRANtours
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